Peter Prange

Traumreise

Wenn ich einen Roman beende, überkommt mich stets ein seltsam zwiespältiges Gefühl, das sich am ehesten mit lustvoller Wehmut umschreiben lässt. Einerseits empfinde ich Erleichterung, eine lange Reise voller Abenteuer und manchmal schier unüberwindlicher Hindernisse hinter mich gebracht zu haben; andererseits befällt mich beim Abschied von meinen Figuren ein Trennungsschmerz, der nicht stärker sein könnte, sähe ich mich im wirklichen Leben gezwungen, meine Heimat mitsamt den Menschen zu verlassen, die mir vertraut und nahe sind.

Um nicht in das berühmte schwarze Loch zu fallen, beschloss ich also, nach Abschluss der Himmelsdiebe sofort in den Urlaub zu fahren. Am Morgen des zehnten Juni gab ich die korrigierten Druckfahnen auf die Post, eine Stunde später war ich auf der Autobahn. Mit jedem Kilometer, den ich hinter mir ließ, hoffte ich Abstand zu gewinnen, nicht nur von meiner Arbeit, sondern auch und vor allem von meinem Stoff, von meiner Geschichte, von all den Irrungen und Wirrungen, die ich in den letzten Monaten durchlebt und durchlitten hatte, zusammen mit meinen Helden ...

Doch was ist der Mensch, dass er Pläne macht? Als ich am frühen Abend aus dem Auto stieg, irgendwo in Südfrankreich, war es, als würde ich in meinem eigenen Kopf aufwachen. War das die Wirklichkeit oder ein Hirngespinst? Vor mir lag ein Ort jenseits der Zeit: ein kleines, verschlafenes Dorf, ein in der Abendsonne glitzernder Fluss, darüber eine Hängebrücke, dahinter ein Gebirge. Alles war genau so wie in meinem Roman – so wirklich und wahrhaftig, wie nur eine vollkommene Illusion sein kann.

Als geisterte ich durch die Kulissen meiner Träume erkundete ich den Ort. Während die Bewohner mich wie einen alten Bekannten grüßten, der nach längerer Abwesenheit in die Heimat zurückgekehrt ist, wunderte ich mich über die Straßennamen. Jeder Platz, jede Gasse war dem Andenken einer Malerin oder eines Malers gewidmet: Salvador Dalì, Leonora Carrington, Pablo Picasso, Harry Winter, Laura Paddington, Max Ernst … Hatten all die Berühmtheiten hier einmal gelebt, in diesem weltabgeschiedenen Nest? Beeindruckt schaute ich mich um, in der Hoffnung, irgendwelche Spuren ihres Wirkens zu entdecken. Aber das einzige Kunstwerk, das mir auffiel, war eine langweilige Heiligenfigur auf dem Marktplatz, die von einem namenlosen Bildhauer stammte.

Enttäuscht wollte ich mich schon abwenden, da erblickte ich plötzlich einen Mann: Hoch über mir schwebte er in der Luft, ohne sichtbaren Boden unter den Füßen, nur lässig angelehnt an eine Wand, als wäre das die natürlichste Sache der Welt. Und während die Passanten unter seinen im Nichts baumelnden Beinen einher schritten, hob er die Hand, um mir den Weg zu weisen.

Als ich das Gebäude sah, auf das der schwebende Mann zeigte, bekam ich vor Aufregung feuchte Hände: Nur einen Steinwurf entfernt stand das Hôtel Les Touristes dieselbe Herberge, in deren Bistro Laura Paddington und Harry Winter, die Helden meines Romans, vor fast einem Menschenleben so viele Abende verbracht hatten, gemeinsam mit Lulu, ihrer Wirtin und Freundin. Sogar geheiratet hatten sie hier! Ungläubig rieb ich mir die Augen: Dass es diese Bar immer noch gab … Vollkommen durcheinander ließ ich mich auf der Terrasse nieder und bestellte etwas zu trinken. Doch mit dem Aperitif ereilte mich auch schon die nächste Überraschung. Der Patron des Lokals war niemand anderes als mein luftiger Wegweiser, und dieser, so stellte sich heraus, war der leibhaftige Enkel meiner Lulu! Den ganzen Abend hörte ich ihm zu, wie er mir Harrys und Lauras Geschichte erzählte, dieselbe Geschichte, die ich im letzten Jahr geschrieben hatte, als gehöre sie zu dem Ort wie die Kirche und der Marktplatz und der unter unserer Terrasse leise rauschende Fluss.

Je später der Abend wurde, umso mehr drängte in mir eine Frage, die ich freilich kaum zu stellen wagte: Ob es das Haus wohl noch gab – das Zauberhaus, in dem Harry und Laura damals gelebt hatten? Natürlich, erklärte der Patron, als ich schließlich meinen ganzen Mut zusammen nahm, und es sei sogar noch ziemlich genau in dem Zustand, in dem die zwei Liebenden es vor über fünf Jahrzehnten verlassen hatten – oben am Hang, nur eine knappe Viertelstunde entfernt.

Gleich am nächsten Morgen machte ich mich auf den Weg, den Laura und Harry so oft beschritten hatten, einen kleinen Trampelpfad entlang, der vom Dorf durch einen Weinberg hindurch den Berg hinauf führte. Mit klopfendem Herzen durchschritt ich ein steinernes Tor. Dann stand ich vor dem Haus.

Wie in Trance ließ ich meinen Blick über das alte Gemäuer schweifen, um die Aura des Ortes auf mich wirken zu lassen. Hier hatten meine Helden die schönsten Momente ihrer Liebe und ihrer Kunst erlebt, all die Augenblicke, die sie dem Himmel gestohlen hatten. Hier hatten sie ihr gemeinsames Bild gemalt, die Himmelsbeute, das Tagebuch ihrer Liebe ... Fast meinte ich ihre Stimmen zu hören, ihr Rufen und Lachen - sogar das Beet, wo sie Mirakelkraut gezogen hatten, glaubte ich zu erkennen.

So vorsichtig und leise, als hätte ich Angst, aus einem Traum zu erwachen, schlich ich um das Haus. Während ich die Steine berührte, die meine Liebenden berührt hatten, die Wege ging, die sie täglich gegangen waren, hatte ich auf einmal das Gefühl, beobachtet zu werden. Vielleicht die neuen Besitzer, der sich durch meine Anwesenheit gestört fühlten? Mit schlechtem Gewissen spähte ich in die Höhe. Doch kein Hausbewohner schaute auf mich herab, sondern ein knollennasiger Riese und eine prallbrüstige Frau, zusammen mit einem drolligen Vogelwesen, das mir so vertraut war wie mein eigenes Spiegelbild: Dada und seine Familie, die Schutzgötter des Zauberhauses, mit denen Harry und Laura ihr selbst geschaffenes Paradies, ihre Liebe und ihre Kunst, vor den Dämonen der Wirklichkeit hatten schützen wollen.

Als ich ins Dorf zurückkehrte, hatte ich nur noch einen Wunsch. Zum Glück spazierte Lulus Enkel gerade nicht durch die Lüfte, so dass ich mich ohne Umstände bei ihm erkundigen konnte. Ob er mir die Stelle zeigen könne, wo Laura und Harry im Fluss gebadet hatten? Nichts hatte mir bei meinen Recherchen eine intensivere Vorstellung vom paradiesischen Leben der beiden vermittelt als die Berichte von ihren sommerlichen Badenachmittagen. Gewiss, erwiderte der Patron, im Dorf gebe es noch ein paar Greise, die die zwei früher als Halbwüchsige beobachtet hätten, heimlich, zwischen den Büschen – die beiden hätten ja meistens nackt gebadet und Laura sei eine bildschöne Frau gewesen. Doch wenn ich der ganzen Geschichte nachspüren wolle, die Harry und Laura hier erlebt hatten, dem ganzen Zauber und ganzen Drama ihrer Beziehung, dann müsse ich zuvor noch zwei andere Orte aufsuchen.

Die erste Fahrt führte mich nach Largentière. Als ich das halb zerfallene, halb renovierte Schloss sah, das sich oberhalb einer Schlucht in den Himmel erhob, erinnerte ich mich, als sei es gestern gewesen: Hier, in der verrücktesten Kunstakademie von ganz Frankreich, die zu Kriegszeiten in der Ruine untergebracht und alles, doch nur keine Kunstakademie gewesen war, hatte Harry seine Geliebte im Sehen unterrichtet, mit Hilfe von Professoren, die Dinge sahen, die allen anderen Menschen verborgen blieben, und die keine Wirklichkeit gelten ließen, die nicht ihre eigene war. Weil ihre innere Vorstellungskraft stärker war als jede äußere Realität.

Aber war dieser Gedanke nicht nur eine schöne Illusion? Hatten nicht auch die Schutzgötter, die doch Lauras und Harrys Glück hätten bewahren sollen – hatten nicht auch sie versagt, als der große Krieg ausgebrochen war? Man hatte die Liebenden auseinander gerissen, wie ein Verbrecher war Harry verschleppt worden, von französischen Soldaten, ohne dass Dada oder die zwei Riesen eingegriffen hätten. Dada prangte zwar noch immer an der Wand des Zauberhauses, doch dort, wo einst seine strotzende Männlichkeit gesessen hatte, klaffte nun eine steinerne Wunde.

Von Largentière bis nach Les Milles, dem zweiten Ort, den ich aufsuchen sollte, bevor der Patron des Hôtel Les Touristes mir zum letzten Mal den Weg weisen würde, war es eine Fahrstrecke von mehreren Stunden. An einem Nachmittag, an dem ein schreckliches Unwetter über ganz Südfrankreich niederging, kam ich in der still gelegten Ziegelei an, in der Harry Winter nach Ausbruch des Krieges interniert worden war, zusammen mit mehreren tausend anderer Deutscher, die damals als feindliche Ausländer gegolten hatten, viele von ihnen Juden und Widerstandskämpfer, Intellektuelle und Künstler, die vor den Nazis aus ihrer Heimat geflohen waren, um in Frankreich ihr Leben zu retten.

Der Anblick des düsteren Backsteingebäudes, das sich unter einem regenschweren Wolkenhimmel duckte, verstärkte meine Zweifel, die mir beim Anblick von Dadas ramponierter Männlichkeit gekommen waren. Was vermögen schon Träume, was vermögen Vorstellungskraft und Imagination angesichts der Wirklichkeit eines Krieges? Widerwillig betrat ich das einstige Internierungslager, das für so viele Menschen Gefangenschaft und Entbehrung bedeutet hatte. Doch ausgerechnet hier, an diesem Ort vermeintlicher Trost- und Hoffnungslosigkeit, entdeckte ich eine Botschaft, die alles wieder auf den Kopf zu stellen schien. Künstler, die hier gefangen gehalten worden waren, hatten im Auftrag ihres Lagerkommandanten die Wände mit phantastischen Malereien ausgestaltet. Sollten Eure Teller nur spärlich gefüllt sein, las ich dort inmitten einer paradiesischen Fülle gemalter Fressalien, mögen unsere Bilder Euren Hunger stillen.

Ich wollte mich erkundigen, von welchem Künstler die Wandmalereien stammten, doch niemand war da, der mir Auskunft geben konnte. Aber wusste ich nicht die Antwort auch so? Ich kannte nur einen Mann, der mit so leichtem Sinn und so leichter Hand imstande war, die Wirklichkeit und ihre Grenzen zu überwinden: Harry Winter, der Held meines Romans, den ich zwar selbst erschaffen hatte, doch der beim Schreiben längst zu meinem Lehrer geworden war.

Nachdenklich kehrte ich zurück an den Ort meiner Träume. Inzwischen hatten sich die Regenwolken verzogen, und warmer Sonnenschein empfing mich vor dem Hôtel Les Touristes. Ich hielt Ausschau nach dem Patron, konnte ihn aber nirgendwo entdecken, weder in den Lüften noch hinter dem Tresen seines Bistros. Als ich mich im Lokal nach ihm erkundigte, schien ihn plötzlich niemand mehr zu kennen, sogar der Kellner zuckte bei der Nennung seines Namens nur die Schultern. Aber benötigte ich noch seine Hilfe? Ohne länger nach ihm zu suchen, ging ich hinunter zum Fluss, allein. Denn ich wusste, meine Träume waren keine Hirngespinste, so wenig wie meine Himmelsdiebe, und wenn mein Roman so wirklich war wie Harrys und Lauras Glück, brauchte ich keine Führung.

Mein Roman ließ mich nicht im Stich. Bevor ich es selber gewahr wurde, hatte ich die Stelle gefunden, die ich sehen wollte, bevor ich mich auf den Heimweg machen würde. Jene Stelle, wo Laura und Harry den vielleicht schönsten Augenblick erlebten, den sie dem Himmel gestohlen hatten, einen Augenblick der Ewigkeit, an diesem unwirklichen, überwirklichen Ort jenseits der Zeit, am Ufer dieses immer gleichen, sich immer wieder wandelnden Flusses in Harrys und Lauras Paradies.